Mittwoch, 18. April 2012

Das Lenschn auf dem Pfad der Differentialdiagnosen

Am Montag früh kam eine 19-jährige junge Frau zu uns mit starken Unterbauchschmerzen. Keine Blutung, kein Fieber, keine sonstigen Beschwerden. In der Anamnese gab sie an, seit vier (!) Jahren unter Diarrhoe zu leiden, viele Male am Tag. Ihr Hausarzt diagnostizierte eine Lactoseintoleranz, allerdings habe sie die Beschwerden trotz Lactose-freier Diät weiterhin (!). Gynükologisch sonographisch war nichts festzustellen, sah alles so aus, wie es aussehen sollte. Bei der vaginalen Untersuchung allerdings hatte sie so starke Schmerzen beim Druck auf den Douglas-Raum (Raum zwischen Vagina und Rektum), dass sie fast vom Stuhl gehüpft wäre.
Schwangerschaftstest unauffällig, Labor samt Entzündungsparametern unauffällig. Die Patientin hatte sich übrigens primär bei den Internisten vorgestellt, diese haben sie dann zu uns weitergeschickt.
Unsere Oberärztin vermutete eine Endometriose. Hierbei handelt es sich um "versprengtes" Endometrium-Gewebe, also Gebärmutterschleimhaut, die außerhalb der Gebärmutter in kleinen Herden verstreut vorkommt. Das ist eine relativ häufige Erkrankung, die Genese ist noch unklar, es gibt verschiedene Theorien dazu. Das Problem dieser Endometrioseherde ist, dass sie, da sie ja eigentlich Gebärmutterschleimhaut entsprechen, zyklusabhängig zu- und wieder abnehmen und dabei Beschwerden auslösen können. Klinisch oder sonographisch kann man diese Herden oft nicht nachweisen, solange sich keine größeren Zysten daraus bilden. Letztendlich kann man sie in manchen Fällen durch eine Bauchspiegelung diagnostizieren oder mit einer Anti-Babypille versuchen, die Symptome zu reduzieren. Spricht die Patientin darauf an, kann man von der Diagnose Endometriose ausgehen.
So also der Plan der OÄ: eine Laparoskopie (Bauchspiegelung) sollte die Verdachtsdiagnose bestätigen/ausschließen. Mir kam die ganze Sache komisch vor. Die Tatsache, dass die Patientin seit 4 Jahren unter Diarrhoen litt und nun einen Druckschmerz in Richtung Rektum zeigte, ließ bei mir im Kopf die Alarmglocken für eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (Mb. Crohn oder Colitis ulcerosa) klingeln. Mein Innere-Kurs liegt ja glücklicherweise noch nicht so lange hinter mir. Als ich später mit der OÄ alleine war und sie gerade die Unterlagen für die OP vorbereitete, zögerte ich eine ganze Weile, ob ich diese Idee ansprechen sollte oder nicht. Vor allem kam die Patientin ja ursprünglich von den Internisten. Falls eine CED vorliegen könnte, hätten diese doch sicher auch daran gedacht!? Andererseits: vielleicht dachten sich die Internisten auch: junge Frau, Unterbauchschmerzen - schicken wir sie erst mal zu den Gynis - wenn die nix finden, können wir uns ja immer noch Gedanken machen.
Ich entschied mich dafür, meine Gedanken auszusprechen und fragte, ob die Patientin nicht vielleicht auch eine CED haben könne. Die Diarrhoen seit so langer Zeit seien schon auffällig und Lactose scheint ja nicht der Auslöser gewesen zu sein. Wenn eine CED eine mögliche Differentialdiagnose wäre - wäre es dann nicht sinnvoller, zuerst eine Coloskopie (Darmspiegelung) zu machen, bevor man die junge Frau operiert? Operieren kann man ja immer noch, wenn dabei nichts rauskommt. Aber dann hat man zumindest eine CED ausgeschlossen... die OÄ hielt das erst mal für sehr unwahrscheinlich. Ich sollte bei einer Patientin einen Zugang legen und als ich zurück kam, rief mich die OÄ zurück. Ich hatte mittlerweile über meinen Kommentar nachgedacht und entschuldigte mich, dass ich nicht "klugscheißern" wollte, aber dass mir der Gedanke eben kam, weil mein Innere-Kurs noch nicht so lange her sei. Sie erwiderte sofort, dass das vollkommen okay sei, sie würde sich über Ideen und Gedankenanstöße sehr freuen. Sie habe sich das nochmal durch den Kopf gehen lassen und darauf hin die Internisten angerufen. Diese meinten, die Anamnese wäre nicht sehr typisch, aber sei doch eine Differentialdiagnose, an die man denken könne. Sie einigten sich, für den kommenden Tag eine Coloskopie anzumelden und je nach Ergebnis dann in den folgenden Tagen noch eine LSK (Bauchspiegelung) nachzuschieben, bei unauffälligem Colo-Befund.

Heute morgen lief die Colo. Der Chef der Gastro fand hierbei entzündliche Veränderungen des terminalen Ileum, welche mit einem Mb. Crohn vereinbar sein könnten. Es wurden Biopsien entnommen und zur feingeweblichen Untersuchung geschickt.

Somit entließen wir heute die Patientin. Die Pathologen werden ca. zwei Tage brauchen, um die Biopsien auszuwerten. Sollte sich der Mb. Crohn bestätigen, wird sich die Patientin bei den Internisten wieder vorstellen müssen, um das weitere Vorgehen zu planen. Eine LSK ist erst mal nicht notwendig, da sie vermutlich nichts Gynäkologisches hat.

Da war ich einerseits etwas baff über mich selbst, aber andererseits auch etwas stolz =O)

Diese Geschichte zeigte aber auch, wie sehr man, wenn man erst mal in einer Fachrichtung drin ist, nur noch in eben dieser Fachrichtung denkt. Umso mehr man sich vom Studium entfernt, desto fremder werden auch die anderen Fachbereiche. Deshalb bin ich wirklich froh, dass ich als Wahlfach letztendlich doch noch etwas anderes als Chirurgie/Orthopädie gewählt haben, um mir auch noch andere Themenbereiche und Krankheitsbilder einprägen zu können.

Liebe Grüße vom Lenschn, dass durch den heutigen Tag mindestens zwei Zentimeter gewachsen ist ;)